12.11.2009 21:09 (Kommentare: 0)
DIE ZEIT | 12.11.2009 | Nr. 47 | VON MARTIN SPIEWAK
Die ZEIT: Frau Stein, die Bertelsmann Stiftung hat eine neue übergreifende Studie zu den Ausgaben des Sonderschulsystems in Deutschland erstellt. Was hat Sie an den Ergebnissen überrascht?
Anette Stein: Wir wissen ja schon recht viel über Förderschulen hierzulande. Was aber immer wieder verblüfft, ist, wie enorm die Unterschiede zwischen den Bundesländern sind. Das beginnt mit den Ausgaben. Bayern etwa investiert in seine Förderschüler jährlich rund 290 Millionen Euro, das sogar etwas kleinere Baden-Württemberg dagegen fast das Doppelte.
ZEIT: Ist das positiv oder negativ?
Stein: Solche Ungleichheiten sind erst einmal eine Tatsache. Dahinter können Differenzen bei der Lehrerbezahlung oder bei der Ausstattung der Förderschulen stecken. Der naheliegende Grund sind aber die unterschiedlichen Förderquoten. Spitzenreiter ist hier Mecklenburg-Vorpommern, wo jeder zehnte Schüler Förderbedarf hat. In Rheinland-Pfalz dagegen liegt der Anteil der Förderschüler bei 4,4 Prozent.
ZEIT: Das heißt, in dem einen Bundesland leben doppelt so viele Schüler mit einem vermeintlichen Handicap wie in anderen?
Stein: ...was eher unwahrscheinlich ist. Ähnliche Unterschiede gibt es bei der Integrationsquote. In Sachsen-Anhalt besuchen nur fünf Prozent der Förderschüler keine Spezialeinrichtung, in Bremen dagegen sind es 45 Prozent. Oder wie erklärt man sich, dass es in Baden-Württemberg viermal so viele Schüler mit einer Sehbehinderung gibt wie in Niedersachsen. Solche Differenzen lassen Fragen zu den eingesetzten diagnostischen Verfahren aufkommen beziehungsweise zu der Definition, was eine Sehbehinderung ist.
ZEIT: Wie viel Geld gibt Deutschland insgesamt für seine Förderschulen aus?
Stein: Professor Klaus Klemm, der die Studie erstellt hat, hat nur die Extrakosten für die Lehrkräfte berechnet. Danach geben die Bundesländer insgesamt 2,6 Milliarden Euro für zusätzliche Pädagogen an den Förderschulen aus. Das ist eine beachtliche Summe. Trotzdem bleiben 77 Prozent der FoÅNrderschüler am Ende ohne Hauptschulabschluss, und das gilt nicht nur für den Förderbedarf geistige Entwicklung oder Lernen. Dagegen schneiden Schüler, die auf eine allgemeine Schule gehen, zumindest im Förderschwerpunkt Lernen besser ab. Man muss also feststellen: Wir geben viel Geld für einen Sonderweg aus, der für viele Jugendliche in einer Sackgasse endet.
ZEIT: Was folgern Sie daraus?
Stein: Wenn sich der separierende Unterricht in großen Teilen als unwirksam herausstellt, müssen wir ihn verändern. Dazu hat sich Deutschland mit der im März dieses Jahres in Kraft getretenen Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen ohnehin verpflichtet. Deutschland muss wesentlich mehr FÖrderschülern einen Platz an einer Regelschule ermöglichen. Zurzeit haben diese Möglichkeit nur gut 15 Prozent der Betroffenen, während knapp 85 Prozent in einer Sondereinrichtung zur Schule gehen. Im internationalen Vergleich müsste das Verhältnis umgekehrt sein.
ZEIT: Damit man sich ein Bild machen kann: Was ließe sich mit den 2,6 Milliarden Euro erreichen, wenn sie in diesen Umbau des Schulsystem investiert würden?
Stein: Das ist von Land zu Land unterschiedlich, wie es auch von Förderbedarf zu Förderbedarf Differenzen gibt. Fasst man alle Betroffenen zusammen, stünden pro Schüler mit sonderpädagogischem Bedarf zusätzlich 2,4 Wochenstunden zur Verfügung. Betrachtet man alle FoÅNrderschüler ohne den Schwerpunkt Lernen, sind es pro Kopf 3,06 Lehrerstunden.
ZEIT: Das hört sich wenig an.
Stein: Das ist es aber nicht. Schließlich haben Integrationsschulen im Schnitt vier Förderschüler pro Klasse. Addiert man ihre Stunden, dann stehen ihnen pro Woche zehn bis zwölf zusätzliche Stunden für die Förderschüler zur Verfügung. Hinzu kommt das sonstige Personal, das den Förderlehrern heute zur Seite steht, die sogenannten Schulhelfer oder Schulassistenten.
ZEIT: Sie rechnen also nicht damit, dass das neue System billiger wird?
Stein: Um Himmels willen, nein, das wäre fatal. Im Gegenteil. Am Anfang dürfte es sogar teurer werden, weil in der Übergangsphase zwei Systeme parallel arbeiten müssen. Die bestehenden Schulen müssen barrierefrei ausgebaut werden. Sie benötigen andere Türen, Toiletten oder Gänge. Zudem brauchen sie ganz neue Raumkonzepte, weil individuelle Förderung auch flexible Lernumgebungen erfordert. Langfristig könnte es jedoch durchaus sein, dass man die Umrüstungskosten durch Einsparungen wieder kompensiert, etwa durch Einsparungen beim Transport, da Förderschüler heute mitunter sehr weite Schulwege zurücklegen müssen.
ZEIT: Reicht es denn, dass Förderlehrer auf eine Regelschule wechseln, müssten nicht auch die anderen Lehrer ihren Unterricht umstellen?
Stein: Veränderungen sind auf vielen Ebenen notwendig. Wir alle haben uns ja daran gewöhnt, dass FoÅNrderschüler nicht gemeinsam mit anderen Kindern und Jugendlichen unterrichtet werden. Der Glaube, dass man in möglichst homogenen Lerngruppen am besten lernt, ist hierzulande tief verwurzelt. In vielen anderen Nationen sieht man das jedoch ganz anders. In Italien, Spanien, Skandinavien gibt es so gut wie gar keine Förderschulen in der klassischen Form mehr.
ZEIT: Geistig behinderte oder schwer Mehrfachbehinderte lernen dort in einer Bank mit gesunden Schülern?
Stein: Es gibt eine große Spannbreite von der vollständigen Integration bis zum Einzelunterricht. Aber selbst wenn Förderschüler getrennt unterrichtet werden: Sie treffen sich in den Pausen, lernen unter einem Dach, machen zusammen Projekte und gehen auf eine Schule. Das ist ein Riesenunterschied zur heutigen Situation.
ZEIT: Warum können gerade Sonderpädagogen mit dieser Vision oft so wenig anfangen?
Stein: Weil auch sie im heutigen System sozialisiert wurden und viele glauben, dass Kinder am besten gefördert werden, wenn man sie getrennt unterrichtet. Viele Sonderpädagogen - aber auch Eltern - sind zudem skeptisch, dass sämtliche der frei werdenden Ressourcen im integrativen System tatsächlich ihren Schützlingen zugutekommen. Und sicherlich spielt bei manchem auch die Angst eine Rolle, in der allgemeinen Schule schwerer zurechtzukommen.
ZEIT: Diese Lehrer haben Angst vor der normalen Schule?
Stein: In gewisser Weise ja. Diese Unsicherheit ist ja auch nicht ganz unberechtigt. Hätten wir überall finnische Schulen, dann wäre die Skepsis gegenüber der Inklusion wesentlich geringer. Dennoch haben die vielen Bewerbungen zum Jakob Muth-Preis für inklusive Schulen, den wir kürzlich veranstaltet haben, gezeigt, dass es in vielen Schulen einen Aufbruch gibt. Diese Beispiele zeigen, dass Leistung und Gerechtigkeit im Bildungssystem kein Widerspruch sind.
Die Fragen stellte Martin Spiewak | ZEIT ONLINE 2009
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