03.09.2009 06:58 (Kommentare: 0)
Von FOCUS-SCHULE-Redakteurin Iris Röll | http://www.schulkompass.de/Artikel/Kombiklassen/de
In der Schule profitieren jüngere Schüler von den älteren
Die Lehrerin ist sieben Jahre alt. Sie zeigt auf das neue Arbeitsblatt und erklärt geduldig: „Schau mal, Maxi, hier musst du erst ganz genau nachhören, ob bei dem Wort ein A vorn dran ist. Und wenn ja, dann machst du da das Kreuzchen.“ Der Abc-Schütze nickt bedächtig. Seine „Patin“ Felicia muss es schließlich wissen, sie hat’s ja im vergangenen Jahr selbst gelernt. In der Grundschule an der Würm in Stockdorf bei München lernen Erst- und Zweitklässler in jahrgangsgemischten Klassen. Auch unter Namen wie JüL (jahrgangsübergreifendes Lernen), Kombiklassen oder Flex (Flexible Schuleingangsphase) verbreitet sich das Modell seit Jahren in vielen Teilen Deutschlands.
Dahinter stehen vor allem zwei Beweggründe. Der erste heißt wie so oft: Sparen. Die Zahl der Schüler wird bis zum Jahr 2020 im Vergleich zu 2005 um rund 18 Prozent sinken. In manchen ostdeutschen Bundesländern hat sie sich seit der Wiedervereinigung bereits mehr als halbiert. Prima, denken sich die Eltern, dann werden die Klassen endlich kleiner. Sind sie auch vielerorts, aber für 15 oder weniger Schüler möchten Politiker keinen eigenen Lehrer mehr bezahlen.
„Kurze Wege für kurze Beine“
Die jahrgangsgemischten Klassen bieten sich an, um Pädagogenstellen einzusparen und kleine Schulstandorte zu erhalten. „Kurze Wege für kurze Beine“ heißt zum Beispiel das Motto für die 30 altersgemischten Kleinen Grundschulen in Brandenburg, wo seit 1990 ein Drittel aller Schulen verschwand. Das Bundesland ist – notgedrungen – einer der Vorreiter in Sachen Kombiklassen.
Das Konzept kommt allerdings nicht aus einem Finanzministerium, sondern aus der Reformpädagogik, womit der zweite Beweggrund angerissen ist. Kinder lernen besser von- und miteinander in altersgemischten Gruppen, weiß man zum Beispiel seit Langem in der Montessori-Pädagogik; auch im Kindergarten käme heute niemand mehr auf die Idee, die Gruppen nach Jahrgängen aufzuteilen. „Die Großen zeigen den Kleinen, wie es geht, und festigen durch das Erklären selbst ihr Wissen; die Lehrerin wird entlastet und kann sich gut um einzelne Schüler kümmern. Wer besonders fit ist, lernt schon mit den Größeren mit, wer noch Zeit braucht, wiederholt mit den Jüngeren“ – so fasst Rektorin Karin Beer von der Grundschule Stockdorf die Theorie zusammen.
Soziales Lernen ist ausgeprägter
In den vergangenen 15 Jahren haben zahlreiche Bundesländer das Konzept in Modellversuchen erprobt, zumeist mit den Klassen eins und zwei. Ergebnis: Die Leistungen der Schüler unterschieden sich nicht von denen in regulären Klassen, das soziale Lernen war allerdings deutlich ausgeprägter. Und: Etwa zehnmal mehr Kinder als normalerweise übersprangen eine Stufe. In vielen Bundesländern gehört diese „variable Verweildauer“ gemeinsam mit der Jahrgangsmischung zum Grundkonzept der reformierten Schuleingangsphase. Heißt konkret: Alle Kinder werden ohne Ausnahmen oder Zurückstellungen eingeschult. Die meisten absolvieren die ersten beiden Klassen in zwei Jahren, wer länger braucht, bleibt drei Jahre, wer es schneller schafft, nur ein Jahr. Trotzdem werden die Schüler nicht aus ihrem gewohnten Umfeld gerissen und wechseln immer mit einigen Klassenkameraden in die nächste Stufe.
Individuelle Förderung
Also zurück zur Dorfschule, welche die eine oder andere Oma noch aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kennt? „Nein!“, widerspricht Ursula Carle empört. Die Bremer Pädagogikprofessorin hat die Modellversuche und die Einführung von jahrgangsgemischten Klassen in Thüringen, Niedersachsen und Brandenburg begleitet und präzisiert: „Dorfschule hieß Abteilungsunterricht, also jedes Kind bekommt die zu seiner Jahrgangsstufe gehörenden Aufgaben. Heute funktioniert Jahrgangsmischung nur mit offenen Unterrichtsformen wie Frei- und Projektarbeit, Wochenplan, Werkstatt- und Stationen-Lernen. Das heißt: Jeder Schüler bekommt individuell die Aufgaben, die zu seinem momentanen Leistungsstand passen.“
Klingt gut, aber wie soll das funktionieren mit 25 Individuen zwischen fünf und acht Jahren in einem Klassenzimmer? Bei Claudia Karbatsch zum Teil auf dem Fußboden. Dort sitzt die Grundschullehrerin aus Stockdorf mit sieben Erstklässlern in einem Kreis vor der Tafel und flüstert ihnen Worte vor, aus denen die Kleinen das A heraushören sollen. Flüstern deshalb, weil 15 Zweitklässler solange in ihrem Schreibschrift-Übungsheft weiterarbeiten. Dann bekommen die Erstklässler ein Arbeitsblatt zum A und setzen sich wieder zwischen ihre größeren Mitschüler – das alles bemerkenswert leise. Claudia Karbatsch ist ständig unterwegs im Klassenzimmer: lobt, ermahnt, feuert an, erklärt. „Die Guten kommen extrem schnell vorwärts, weil sie nicht ausgebremst werden, aber auch die schwachen Schüler kann ich besser fördern, weil die Kinder sich gegenseitig helfen und ich so für den Einzelnen mehr Zeit habe“, erklärt die Lehrerin. Nachteile sieht sie eventuell für Kinder, die sich nicht gut konzentrieren können und starke Lehrerführung brauchen, weil sie mit dem selbst gesteuerten Lernen sonst überfordert sind.
Offener Unterricht läuft entspannter ab
Ihre Kollegin Mona Stelzner vom anderen Ende Deutschlands, aus der Grundschule Fockbek in Schleswig-Holstein, stimmt ihr zu und ergänzt: „Anfangs bin ich fast verrückt geworden, weil ich dachte, ich müsse den Schülern ihren Stoff immer getrennt vorkauen. Aber ich musste schmerzlich erfahren, dass ich als Lehrerin gar nicht so wichtig bin, und meinen Kontrolldrang ablegen.“ Einig sind sich die beiden Lehrerinnen darin, dass ein solcher offener Unterricht zwar mehr Arbeit in der Vorbereitung bedeutet, aber die Stunden dafür entspannter ablaufen.
Ein Zukunftsmodell für Deutschland? Ja und nein. Berlin, Bremen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein haben die flächendeckende Einführung der Mischklassen in Jahrgangsstufe eins und zwei in den nächsten Jahren beschlossen. Im Saarland steht das Thema noch gar nicht auf der Tagesordnung, da empirisch nicht bewiesen sei, so der Sprecher des Kultusministers, dass Jahrgangsmischung mehr Lernerfolg bringe. Alle anderen Länder erlauben Kombiklassen zwar, überlassen die Einführung aber den Schulen. Ebenso unterschiedlich statten die Länder die Klassen mit zusätzlichen Lehrerstunden aus: Von null (Schleswig-Holstein) bis zu acht Extra-stunden (Brandenburg) reicht die Bandbreite.
Kritische Stimmen
Vor zwei Hindernissen steht die flächendeckende Einführung: Zum einen mauern Lehrer, die sich mit schlechten Rahmenbedingungen allein- gelassen fühlen, wie das Kollegium der Trinkbornschule im hessischen Rödermark, das 2004 nach zehn Jahren das Modell beerdigte. Andere kleben am traditionellen Frontalunterricht. „Dann kann es nicht funktionieren. Damit würde man Konzept und Kindern nichts Gutes tun. Solche Reformen müssen wachsen“, gibt Maresi Lassek vom Grundschulverband zu bedenken. Einer der schärfsten Kritiker, Günter Jansen, ein pensionierter Lehrer und Lehrerausbilder aus Nordrhein-Westfalen, wettert: „Schwache Kinder lässt das Konzept zurück, die können nicht selbst gesteuert lernen. Aber für Politiker ist das eine billige Schule, für die Lernmittelindustrie ein Riesengeschäft, weil die Kinder mit Materialien ruhiggestellt werden.“
Auch Eltern gehen auf die Barrikaden. Sie haben solchen Unterricht selbst nie erlebt, fürchten, dass ihre Kinder als Hilfslehrer missbraucht werden und selbst nicht genug lernen. Petitionen, Schülerstreiks, Mahnfeuer prangern die Sparpolitik auf Kosten der Schüler an. „Die Teilnahme soll freiwillig bleiben, das ist mir wichtig“, sagt Rektorin Karin Beer aus Stockdorf. Ihre Grundschule bietet seit acht Jahren parallel jahrgangsübergreifende und Regelklassen an und hat damit ein anderes Problem: „Wir haben viel mehr Anmeldungen für die gemischten Klassen, die wir gar nicht alle berücksichtigen können.“
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