28.01.2011 07:14 (Kommentare: 0)
Ostseezeitung | lokal Greifswald | vom 28. Januar 2011
Greifswald (OZ) - Kinder mit Lernschwierigkeiten hat es immer gegeben. Ob Sprachstörungen, Lese-Rechtschreib-Schwäche, eine Verzögerung der geistigen Entwicklung oder Verhaltensauffälligkeiten . . . „Bei rund 12 Prozent der künftigen Erstklässler stellten wir in der Vergangenheit einen Förderbedarf fest“, berichtet Angelika Petschaelis. Die Schulärztin muss es wissen. Kann sie sich doch auf langjährige Erfahrungen bei den Einschulungsuntersuchungen in Nordvorpommern berufen.
Bislang hatte eine solche Diagnose die sofortige Förderung zur Folge. Jetzt nicht mehr. Nach dem Willen des Schweriner Bildungsministeriums sollen Spezialklassen auslaufen und alle Kinder die normale Grundschule besuchen. Erkennen die Lehrer im Laufe des ersten Halbjahrs, dass ihre Schützlinge Lernprobleme haben, können die Ursachen erforscht werden. Vorausgesetzt — die Eltern wollen das überhaupt und stellen einen Antrag! In der Konsequenz gäbe es dann auch eine Förderung.
„Fatal“, findet nicht nur die Schulärztin und spricht damit Eltern aus dem Herzen. Zwar hat die Idee der „präventiven und integrativen Grundschule“ sehr viele Befürworter, wie die von Stadtelternrat und Bildungsausschuss der Bürgerschaft gemeinsam initiierte Diskussionsrunde am Mittwochabend in der Fischerschule zeigte. Doch die für den Schulamtsbezirk Greifswald geplante Umsetzung ab August 2011 stößt auf massive Bedenken.
Einer der Kritikpunkte: Das Konzept stammt aus Amerika, „wurde dort langjährig erforscht“, wie Schulrat Fred Baumann beteuert. Anerkennung erntet er dafür nicht. Im Gegenteil: „Dort herrscht doch ein komplett anderes Schulsystem“, kontert ein Vater und erhält Rückendeckung vom pensionierten Pädagogen Peter Multhauf: „Integration finde ich grundsätzlich richtig, aber nicht in diesem Tempo und praktisch ohne Vorbereitung.“ Diese Behauptung will Schulrat Baumann so nicht stehen lassen. Immerhin erhielten die Klassenlehrer der künftigen Abc-Schützen ab April eine neuntägige Fortbildung, um mit den neuen Lehrmitteln arbeiten zu können.
Doch genau die sorgen für weiteren Ärger. „Das neue Schulmaterial orientiert sich am unteren Lernniveau. Viele Kinder werden damit absolut unterfordert sein“, sagt Bernt Petschaelis voraus. Aus diesem Grund ermuntert der Leiter des Greifswalder Schulverwaltungs- und Sportamtes alle Schulkonferenzen, „ihre Lernmittelfreiheit beizubehalten.“ Eine Empfehlung, die Schulrat Baumann nicht akzeptieren mag. Denn ohne Material sei das gesamte Projekt hinfällig. Denkwürdig: Zwei der fünf Greifswalder Grundschulen lehnen das amerikanische Konzept völlig ab, denn sie beantragten beim Schulamt, nach einem eigenen Plan förderbedürftige Schüler integrieren zu dürfen.
Und nicht nur Lehrerkollegien haben offenbar Bauchschmerzen mit dem, was Schwerin als Rezept verordnet: Wenn Grundschullehrer künftig diese Arbeit leisten sollen, „wäre doch eine Reduzierung der Klassenstärke die logische Folge“, findet Anja Schmitz vom Vorstand des Kreiselternrates Ostvorpommern. Und lag voll daneben.
Zwar stehe es den Schulen frei, Gruppen zeitweise zu teilen, um besonders zu fördern — oder zu fordern. Aber nur innerhalb der Stundenzuweisungen. Soll heißen: Klassen mit 27 oder 28 Schülern werden auch künftig keine Seltenheit in Greifswald sein. Doch im Gegensatz zur jetzigen Situation gebe es dann vier, fünf oder auch mehr Kinder in dieser Gruppe, die einer erhöhten Aufmerksamkeit bedürfen.
„Und das, obwohl viele Lehrer schon jetzt demotiviert sind“, fasst Anja Schmitz ihren Ärger zusammen.
Schulrat Fred Baumann ließ sich davon nicht beeindrucken und warb trotz Kritik mit Engelszungen für die Idee. „Es ist nicht wenig, was das Land an Stunden demnächst dazu gibt“, argumentierte er und nannte Beispiele: Sollte die Erich-Weinert-Schule im August 71 Erstklässler haben, bekäme sie elf zusätzliche Lehrerstunden. In anderen Rechnungen dieser Art hieß das dann: „Einen halben Sonderpädagogen.“ Damit dürfte feststehen, dass Lehrer der Pestalozzischule, die vor der schrittweisen Auflösung steht, erst einmal zu Reisepädagogen werden.
Eine Entwicklung, die Edeltraud Schmid mit großer Sorge betrachtet: „Integration hat auch ihre Grenzen“, weiß die Schulleiterin der jüngst mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichneten Förderschule Behrenhoff. Doch im Gegensatz zur Greifswalder Pestalozzischule ist ihr Haus als Spezialeinrichtung anerkannt, hat also Bestand. Kein Wunder. „Wir haben eine ungebrochene Nachfrage von Eltern, die wir gar nicht erfüllen können.“
„Es ist nicht wenig, was das Land an Stunden demnächst dazu gibt.“
Fred Baumann, Schulrat
Integration in Zahlen
12 Prozent aller Kinder in M-V sind Förderschüler. Damit hat unser Land die höchste Quote — der deutsche Durchschnitt liegt bei 4,9 %. 82 Erstklässler wird die Greif-Grundschule voraussichtlich im August haben — dann erhält sie 13 zusätzliche Lehrerstunden. 147Schüler zählt die Förderschule „Am Park“ in Behrenhoff aktuell. Ursprünglich waren für dieses Jahr 74 prognostiziert. Auf der Akut-Warteliste stehen elf Kinder.
130000 Euro steckt das Land im diesem Jahr in die Fortbildung von Lehrern.
Kinder als Nebensache?
Schulrat Baumann hat seine Hausaufgaben gemacht. Mit einer PowerPoint-Präsentation warb er für die „integrative Grundschule“ — und konnte doch bei den vielen anwesenden Lehrern irgendwie nicht punkten. Lag es an den von ihm gleich en masse zitierten Verordnungen, Gesetzen, Richtlinien und Erlassen, mit denen er das Thema überzeugend darstellen wollte? Oder doch eher an seiner Ohnmacht, weshalb er mehrfach auf die Haushaltslage des Landes verwies? Für gute Rechner stand deshalb am Ende fest: Um die Kinder geht es bei diesem Konzept offenbar eher nebensächlich. Stattdessen dreht sich alles ums Geld.
Zweifel oder gar Kritik kamen leider nur von Pädagogen freier Schulen. Verwunderlich? Eher nicht. „Die Lehrer haben einen Maulkorb in dieser Sache und müssen sie gutheißen“, sprach Peter Multhauf (Linke) Klartext. Bleibt zu hoffen, dass wenigstens die Eltern noch aufwachen. Integration? Ja! Übereilte Schritte ohne fundiertes, finanziell gestütztes Konzept? Nein!
Petra Hase (43) betrachtet die Infoveranstaltung zur integrativen Grundschule, die der Fischerschule eine vollbesetzte Aula bescherte.
Petra Hase
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