14.11.2012 07:55 (Kommentare: 0)
Ostseezeitung | Greifswald | vom 14.11.2012 | von Petra Hase
Greifswald (OZ) - Stress, Stress, Stress: Immer häufiger klagen Abiturienten über zu viel Lehrstoff, eine hohe Stundenanzahl, wenig Freizeit. Das kann Nele Hameister gut nachvollziehen. Denkt die 20-Jährige an ihre Zeit als Obenstufenschülerin zurück, fällt ihr spontan ein Wort ein: Punkte. „Ab Klasse elf zählt kein Geld, kein Hobby, kein Schlaf mehr. Da geht es nur noch um Punkte — das ist die Währung, die zählt“, erinnert sich die Greifswalder Studentin der Psychologie an den Leistungsdruck.
Ein Dilemma, dem sich immer mehr Gymnasiasten gegenüber sehen. Seit der Umstellung des Abiturs in MV von 13 auf zwölf Schuljahre in 2008 „hat sich die Zahl der Klassenwiederholer in Stufe 11 verdoppelt bis verdreifacht“, berichtet die grüne Landtagsabgeordnete Ulrike Berger. Hätten in der Vergangenheit 1,7 Prozent der Schüler das Gymnasium abgebrochen, seien es jetzt 5,28 Prozent.
Alarmierend ebenso: „Die dramatische Verschlechterung der Prüfungsergebnisse im Fach Mathematik“, sagt die Greifswalder Politikerin. Der Durchschnitt — Note Vier.
Deshalb sieht die 33-Jährige dringenden Handlungsbedarf, will als Vorsitzende des Bildungsausschusses im Landtag etwas ändern. Schülern soll künftig die Option eines 13. Schuljahres eingeräumt werden. In zwölf Bundesländern gibt es die Wahlmöglichkeit zum Teil bereits.
Für Claudia Metz aus Greifswald, Vorsitzende des Kreiselternrates und seit dem Wochenende auch Vizechefin des Landeselternrates, ein sinnvoller Vorschlag. Die Masse der Oberstufenschüler sei völlig frustriert. Im Durchschnitt 35 Unterrichtsstunden pro Woche plus Hausarbeiten und Klausurenvorbereitung würden viele an ihre Grenzen führen. „Die Lehrpläne müssen endlich entrümpelt werden, der Leistungsdruck macht die Kinder fertig“, so Metz. Das beobachtet auch Kornelia Tetzlaff vom Evangelischen Schulzentrum Martinschule, die eine 11. Klasse betreut. „Die Schüler sind längst nicht mehr so motiviert wie früher“, berichtet sie. Eine enorme Menge an Stoff müsse reproduziert werden. „Das ist nicht das, was wir wollen“, sagt die Deutsch- und Geschichtslehrerin.
Ein wunder Punkt, über den sich Waldemar Okon, der für die Bündnisgrünen im Kreistag sitzt, als Vater zweier Gymnasiasten ebenso ärgert: „Es geht nur noch ums Auswendigpauken. Die Schüler werden Reproduktionsesel, ihnen wird die Freude am Lernen genommen“, kritisiert er. Die Folge sei, dass immer mehr Heranwachsende sich gezwungen sähen, ihre Hobbys fallen zu lassen. „Sie verzichten auf das Musizieren, auf Sport, auf alles, was ein junger Mensch tun sollte, um sich weiterzuentwickeln und Freude am Leben zu haben“, sagt Okon.
Nele Hameister bestätigt das aus eigener Erfahrung. Die Studentin engagiert sich seit Jahren bei den Pfadfindern, leitet aktuell in Stralsund Jugendgruppen. Doch in ihrer Oberstufenzeit sei sie häufig gedrängt worden, „Prioritäten zu setzen“. Sprich: Ihre ehrenamtliche Arbeit zugunsten ihrer Lernzeit niederzulegen. Getan hat sie es nicht. „Dafür war und ist mir die Sache zu wichtig“, erklärt sie. Doch Mitschüler und Freunde hätten leider zuhauf Freizeitaktivitäten aufgrund des Schulstress hingeschmissen.
Für Nils Kleemann fatal. Der Montessorischulleiter sucht gerade junge Lehrer für die Erweiterung seines Hauses. Doch ein Super-Abi sei für ihn nicht ausschlaggebend. „Für mich ist vielmehr interessant, welches Portfolio sie haben“, sagt er. Heißt: Außerschulische Aktivitäten und ehrenamtliches Engagement.
Um die Bedingungen dafür wieder zu verbessern, wagt Ulrike Berger mit ihrer Partei jetzt einen Vorstoß: Sie will, dass sich Schüler künftig entscheiden können, ob sie ihre Hochschulreife in 12 oder 13 Jahren erreichen. Unter dem Titel „In zwei Geschwindigkeiten zum Abitur“ diskutiert Berger aktuell mit Betroffenen zwei unterschiedliche Modelle, bevor sie demnächst einen Antrag ins Parlament einbringt. Das erste Modell beinhaltet ein Flexibilisierungsjahr, das zweite eine dreijährige Qualifizierungsphase. Bei einer Podiumsdiskussion in Greifswald fand der zweite Vorschlag mehr Befürworter.
Schüler sollen, geht es nach dem Willen der Grünen, künftig wählen können, ob sie ihr Abi in 12 oder 13 Jahren ablegen. Für die 13 Jahre gibt es zwei Modelle. Das erste beinhaltet ein Flexibilisierungsjahr: Ein freiwilliges Schuljahr nach Klasse 10, in dem Schüler den bisherigen Stoff festigen können, um sich auf die Oberstufe vorzubereiten. Bei der dreijährigen Qualifizierungsphase als Modell 2 soll der Stoff — vereinfacht formuliert — z.T. von zwei auf drei Jahre verteilt werden.
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